Blogartikel vom 18.09.2020 

Ein unbekanntes Haus....


Wenn Sie heute, zusammen mit vier ihnen fremden Menschen, ein unbekanntes Haus betreten, und jeder von Ihnen nach seinem ersten Gefühl gefragt wird, so wird es sein, dass jeder dieser Menschen etwas anderes wahrnimmt.
Fragt man diese Menschen nach den Emotionen, die sie empfinden, so werden sie folgendes antworten:
Schwere zwischenmenschliche Konflikte, die in Gewalt und Tragik enden. 
Kindergeschrei, lärmende Haustiere, Familienidyll.
Einsamkeit, Sehnsucht nach Wärme, die Schwere eines großen menschlichen Verlusts.
Ein selbstgewähltes Leben im Exil, Kraft durch Ruhe und Natur, um die eigene Kreativität anzuspornen.
Das Wunder der Geburt.
Der Schrecken des Todes.


Wer von diesen Menschen hat aber nun Recht? Wer von ihnen fängt die Stimmungen wirklich ein?
Wohl alle. Zumindest hat niemand Unrecht.


Ein Haus ist nicht nur einfach eine menschgemachte Behausung, die als Schutz dienen soll. Ein Haus erfüllt mannigfaltig viele Zwecke, die in ihrer Unterschiedlichkeit kaum entgegengesetzter sein können.


Hier geben sich Tod und Leben ein Stelldichein, können friedlich koexistieren.
Hier erleben wir im ersten Stock das Wunder neugeborenen Lebens, während im Erdgeschoss ein Mensch methusalemischem Alters seine letzten Atemzüge tätigt.
Beides davon kann in Frieden passieren, oder von Schmerz überdeckt sein.
Denn Häuser sind stets zu Beginn leere Hüllen, die wir Menschen mit Emotion und Geschichte füllen. 
Und wie wir können sie unterschiedliche Entwicklungen durchleben. Weil es stets von den Menschen abhängt, die die Unterkünfte bewohnen.
 
Diese Bandbreite an Möglichkeiten, diese Fülle an Emotionen, die hier entstehen können, haben uns Menschen immer schon neugierig gemacht und fasziniert.
Denn wir sind es gewohnt, dass von uns erbaute Gemäuer stets einen fest definierten Rahmen haben. Ein Krankenhaus ist für die Kranken, ein Gefängnis für die Devianten, aber für wen ist ein Haus?

Häuser sind für alle. Für die Bettler, und für die Könige. Für die Gottlosen, und für Gott persönlich. Für die Spieler und Täuscher, für die rechtschaffenen und geradlinigen. Häuser sind etwas zutiefst menschliches.
Auch ein Fuchsbau, eine Dachshöhle, oder ein Vogelnest sind Häuser. Aber sie werden nie über die selbe Geschichte verfügen, die ihnen ein Mensch geben kann.
Tiere beschränken sich auf den Schutz, wir bauen aus anderen Gründen.
Um nicht vergessen zu werden, und um zu vergessen. Um jemand zu huldigen, oder ihn auf ewig wegzusperren. Um uns der Welt zu zeigen, oder uns vor ihr zu verstecken.


Friedensreich Hundertwasser hat Häuser gebaut, die den Menschen wieder mit der Natur verschmelzen lassen.
Frank Gehry baut Häuser, die eng umschlugen und zärtlich miteinander zu tanzen scheinen.
Stanley Kubrick stellt in Shining ein Haus dar, wie es böser und diabolischer kaum sein könnte.
Aber sie alle haben gemeinsam, dass sie von uns Menschen erbaut sind. Ihr Wesenskern ist der gleiche, erst die Zeit und ihre Bewohner haben sie zu dem gemacht, was sie später geworden sind.
Sind uns Häuser damit nicht ähnlicher als so mancher Weggefährte?
Seit es Menschen gibt, gibt es Häuser. Und solange es Menschen geben wird, werden wir neue bauen. Und auch diese wieder mit unseren eigenen und stets höchstpersönlichen Geschichten füllen.
Weil uns Häuser so nahe sind, weil wir Menschen sie brauchen. Sie begleiten uns, vom ersten Schrei bis zum Übertritt aufs andere Ufer.
Sie sind dabei, wenn wir Leid und Freude erleben.
Sie erzeugen in uns diese Gefühle.
Häuser sind so menschlich, wie es der Mensch oft selbst nicht ist.
Sie sind uns näher, als mancher Freund.
Und können uns trotzdem auf immer rätselhaft bleiben.
Wie ein Mensch, so ein Haus.
---ENDE---
Andreas Mörtl